„Die Baby-Boomer stellen hohe Autonomie- und Flexibilitätsansprüche und wollen nicht in die derzeitigen Pflegeeinrichtungen gehen.“ Mit dieser Erkenntnis aus mehreren Studien stellt Andreas Heller, seit einem Jahr Professor für Palliative Care und Organisationsethik an der Universität Graz, die derzeitigen Ausbau-Maßnahmen für die Versorgung Älterer und Sterbender in Frage. Die gesellschaftliche Entwicklung – immer mehr Pflegebedürftige und gleichzeitig weniger Angehörige, die sie betreuen können – macht dringend Lösungen notwendig, die derzeit politisch nicht einmal angedacht sind. „Unser Versorgungssystem ist bettenlastig falsch aufgestellt. Roboter, Digitalisierung und ‚Pflegesklavinnen‘ aus Osteuropa sind der falsche Weg“, betont Heller. Gemeinsam mit Klaus Wegleitner und Patrick Schuchter erforscht er in mehreren Projekten intergenerationelle Stadtteillösungen und so genannte „caring communities“ als eine Alternative: Angehörige, Nachbarn und freiwillige UnterstützerInnen kümmern sich um die Stabilisierung des Alltags älterer und chronisch kranker Menschen und übernehmen etwa Kochen, Einkauf, Haushalt oder leisten einfach nur Gesellschaft. „Die professionelle Versorgung von Menschen am Lebensende reicht nicht aus, es braucht einen Sorgemix, der nachbarschaftlich und wohnortbezogen organisiert wird“, so Wegleitner.
Die Basis der Forschungsarbeit des Teams ist die transdisziplinäre Kooperation mit Betroffenen, Angehörigen, Organisationen, der Politik, aber auch Architekturbüros. „Wir untersuchen vielschichtige Standpunkte, um gemeinsam tragbare Konzepte zu entwickeln. Wichtig ist dabei auch die Vernetzung mit anderen Sorgebereichen und eine Reflexion auf den Status von Sorgearbeit in unserer Gesellschaft insgesamt“, betont Schuchter. Mit dieser interdisziplinären Ausrichtung sind Hellers Lehrstuhl und die Abteilung Public Care an der Universität Graz einzigartig in Europa. Die WissenschafterInnen – Soziologe Wegleitner ist auch Public-Health-Forscher, Schuchter ist Philosoph, Ethiker, Gesundheitswissenschafter und Krankenpfleger – befassen sich einerseits mit den Bedürfnissen kranker, alter und beeinträchtigter Menschen, andererseits mit der Frage, wie sich die Zivilgesellschaft mobilisieren lässt, einen Teil der Sorge zu übernehmen. Gemeinsam mit Alternsforscherin Ulla Kriebernegg bauen die drei einen Cluster für „care and age research“ auf, der sozialpolitische Debatten aufgreift und Lösungen für ein gutes Leben bis zum Schluss sucht. „Diese Arbeit gibt generell Impulse für die Zukunft der Gesellschaft. Im Sterben sieht man die existenziellen Fragen des Lebens wie unter einem Vergrößerungsglas. Wir forschen nach Antworten, die für alle relevant sind“, fasst Heller zusammen.
Symposium
Die vielfältigen Perspektiven werden auch beim Symposium am 15. und 16. März sichtbar gemacht, zu dem 250 TeilnehmerInnen aus sechs europäischen Ländern kommen – von PflegehelferInnen über SozialmanagerInnen bis zu PalliativmedizinerInnen. Unter dem Titel „Horizonte der Sorge“ thematisieren internationale ReferentInnen aus den unterschiedlichsten Bereichen, wie sozialer Zusammenhalt entstehen kann und was wir tun müssen, um die Welt lebenswert zu erhalten. „Es geht um die kollektive Zukunft der Gesellschaft“, so Wegleitner.