Was kann religiöse Bildung angesichts der vielen Krisen überhaupt ausrichten?
Die Kriege im Nahen Osten und in der Ukraine sind nicht die einzigen Krisen, mit denen Jugendliche aktuell konfrontiert sind. Diese Generation wächst in einer Phase auf, die auch von Corona, Migration, Finanzkrise und Klimawandel geprägt ist. Das führt zu Unsicherheit und Orientierungslosigkeit. Religiöse Bildung hat angesichts dieser Situation die Aufgabe, einen Sinnhorizont sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene zu eröffnen und zur Resilienzfähigkeit beizutragen.
Schüler:innen erleben im Religionsunterricht, wie Antworten auf komplexe Fragen unserer Zeit gesucht werden, und wie vereinfachende Rezepte, die gegenwärtig manche Parteien und ideologische – auch religiös verbrämte – Strömungen anbieten, kritisch hinterfragt werden. Ich denke dabei zum Beispiel an Themen wie Schöpfungsverantwortung im Rahmen einer Bildung für nachhaltige Entwicklung; interreligiöse Bildung, die einen Beitrag zur Dialogfähigkeit und zum Respekt beiträgt; oder an Demokratiebildung auf der Grundlage eines christlichen Menschenbildes.
Wie erreicht man Jugendliche?
Eine schwierige Frage. In erster Linie wohl, indem man ihre Erfahrungen, ihre Fragen und ihre Sehnsüchte wahrnimmt, ernst nimmt und zum Gegenstand des Unterrichts macht. Und auch, indem Lehrpersonen nicht nur kompetent Inhalte vermitteln, sondern ebenso als authentische Gesprächspartner:innen – manchmal auch als Reibebaum – zur Verfügung stehen.
Hat sich das Interesse am Religionsunterricht seit der Einführung des Ethik-Unterrichts geändert?
Das inhaltliche Interesse ist gleichgeblieben. Aber es ist natürlich eine strukturelle Stärkung des Religionsunterrichts, wenn die Alternative keine Freistunde mehr ist. Und: Ich sehe viel Potenzial in einem wechselseitigen inhaltlichen Zueinander der beiden Unterrichtsgegenstände. Der Religionsunterricht kann viel von einer kompetenten didaktischen Bearbeitung aktueller ethischer Thematiken lernen, und der Ethikunterricht braucht religiöse Information und Kompetenz bei der (auch kritischen) Bearbeitung der Rolle von Religionen in unserer Gesellschaft.
Der Wiener Vizebürgermeister Christoph Wiederkehr hat jüngst Demokratie- statt Religionsunterricht gefordert. Was halten Sie von seinen Argumenten, dass dieser die gegenseitige Akzeptanz und Wertschätzung unterschiedlicher Gesinnungen erhöhen kann?
Die Argumentation erweckt den Eindruck, dass Religion mit Demokratie nicht vereinbar wäre. Unbestreitbar gibt es religiöse Entwicklungen und religiös begründete Verhaltensweisen, die einem demokratischen Verständnis entgegenstehen, das gilt aber auch für andere weltanschauliche Strömungen, auf die wir in der Gesellschaft treffen. Religiöse Bildung stärkt die Kritikfähigkeit von jungen Menschen gegenüber fundamentalistischen und ausgrenzenden Formen von Religion und leistet somit einen wesentlichen Beitrag zur Stärkung des demokratischen Zusammenlebens.
Wie sollte ein zeitgemäßer Religionsunterricht ausschauen?
Dafür gibt es kein fix und fertiges Rezept. In erster Linie muss er die einzelnen Schüler:innen in ihrer Individualität ernstnehmen. In einer Situation von gesellschaftlicher, kultureller und vor allem auch religiöser Vielfalt, denen Jugendliche in den sozialen Medien 24/7 ausgesetzt sind, ist es die Aufgabe religiöser Bildung, die Orientierungs- und Entscheidungsfähigkeit bestmöglich zu unterstützen. Das geschieht durch kompetente und zugleich unaufdringliche Sachinformation, durch ein authentisches Angebot von Orientierung auf der Grundlage von religiösen Traditionen. Ziel muss es sein, nicht eine an dogmatischen Vorgaben orientierte religiöse Entscheidung herbeizuführen, sondern ein möglichst hohes Maß an Autonomie zu gewährleisten und dabei klar zwischen lebensförderlichen und das Leben einengenden Formen von Religion zu unterscheiden. Das heißt, die Jugendlichen sollen sich selbstständig orientieren und reflektierte Entscheidungen über ihre Religiosität treffen. Dafür ist es notwendig, unterschiedliche Traditionen in ihrem jeweiligen geschichtlichen Kontext kennenzulernen.
Wo muss die Universität als Ausbildnerin ansetzen?
Die Erfahrungen, Fragen und Sozialisationsbedingungen von Studierenden, die sie umgebenden Kontexte, sind radikal ernst zu nehmen. Das schulische Umfeld verändert sich permanent. Es braucht von Seiten der Universität daher eine ausgewogene Balance zwischen Fachwissenschaften, Fachdidaktik, bildungswissenschaftlichen Grundlagen und gut begleiteter schulischer Praxis. Hier stellen sich angesichts der zeitlichen Reduktion und der Neukonzeption des Lehramtsstudiums gravierende Herausforderungen.
Ist die Religionspädagogik an der Universität Graz dafür gut aufgestellt, oder braucht es Anpassungen?
Mit Fragen der Ethikdidaktik befassen wir uns bereits seit einigen Jahren in Forschung und Lehre. Das werden wir noch intensivieren – vor allem in Bezug auf den Zusammenhang von Ethik und Religion. Ein weiterer Schwerpunkt, der nun weiter ausgebaut wird, ist die interreligiöse und interkulturelle Bildung. Diese gewinnt gerade angesichts von Migration, zunehmendem Antisemitismus und Muslim:innenfeindlichkeit deutlich an Relevanz. Außerdem soll im Herbst ein Dialogzentrum seinen Betrieb aufnehmen, sofern die Finanzierung gelingt.