Thesen zum Verhältnis von Ethikunterricht und konfessionellem Religionsunterricht anlässlich des Berichtes zum Ethikunterricht von Bundesministerin Claudia Schmied
1) Gegenwärtig (Schuljahr 2012/13) gibt es an 223 Standorten (AHS und BHS) in der Sekundarstufe II den Schulversuch Ethik. Hier ist für SchülerInnen, die keinen konfessionellen Religionsunterricht besuchen, der Besuch des Ethikunterrichtes verpflichtend. An der rechtlichen Stellung des Religionsunterrichtes ändert sich durch den
Schulversuch Ethik nichts.
2) Der Bericht der Unterrichtsministerin an das Parlament vom 1. Oktober 2012 stellt die Entwicklung des Schulversuches seit dem Schuljahr 1997/98 dar, bündelt die Aussagen und Ergebnisse der parlamentarischen Enquete zum Ethikunterricht vom 4. Mai 2011 und entwickelt drei Modelle für den Ausbau des Ethikunterrichtes an der Sekundarstufe II: A. Ethik als eigenständiger (zusätzlicher) Pflichtgegenstand für alle SchülerInnen B. Ethik als „alternativer Pflichtgegenstand“ zu Religion C. Ethik als Lehrplanbestandteil eines bestehenden Pflichtgegenstandes
3) In diesem Bericht werden vorwiegend die finanziellen Konsequenzen der einzelnen Modelle dargelegt sowie einige offene schulorganisatorische Themenstellungen benannt, wie etwa Fragen der Lehrplangestaltung, des Ortes der Ausbildung der LehrerInnen oder der Entwicklung von Lehrmaterialien. Die bildungstheoretischen Implikationen der einzelnen
Modelle werden leider nicht diskutiert.
Deswegen meine Stellungnahme aus religionspädagogischer Perspektive:
4) Modell A sieht Ethik als Pflichtgegenstand für alle SchülerInnen vor. Zu befürchten ist, dass der konfessionelle Religionsunterricht durch dieses Modell strukturell geschwächt und marginalisiert würde, da Religion für die SchülerInnen zusätzlich besucht werden müsste – diese SchülerInnen hätten (je nach Modell) ein oder zwei Stunden Ethik und zusätzlichen Religionsunterricht.
Modell B entspricht dem gegenwärtig in den Schulversuchen praktizierten Konzept – mit diesem Modell wurden und werden, darauf weist auch die Evaluierung hin, positive Erfahrungen gemacht.
Modell C ist die am wenigsten elaborierte Variante. Hier ist ungeklärt, welche Gegenstände davon betroffen wären, und zu befürchten, dass Ethik letztlich auf der Ebene eines „geduldigen Unterrichtsprinzips“ abgehandelt würde, das als add on in Geschichte, Philosophie oder wo auch immer dazukommt. Dieses Modell scheint eher im AHS‐Bereich als im BHS‐Bereich durchführbar zu sein. Auch eine Erhöhung des Wochenstundenkontingentes für einen Unterrichtsgegenstand lässt diese Frage prinzipiell unbeantwortet.
Zum Verhältnis von Religionsunterricht und Ethikunterricht, das zumindest in den Modellen A und B inhaltlich zur Diskussion steht:
5) Die Bestrebungen, für SchülerInnen, die keinen konfessionellen Religionsunterricht besuchen, einen verpflichtenden Ethikunterricht einzuführen (Modell B), sind unbedingt zu unterstützen. Dadurch wird gewährleistet, dass die österreichische Schule ihrem Bildungsauftrag, einen Beitrag zur Werterziehung aller Kinder und Jugendlicher zu leisten, nachkommen kann (vgl. § 2 SchOG).
6) Zugleich ist der konfessionelle Religionsunterricht, wie er seit Jahrzehnten von den Kirchen und Religionsgesellschaften als Dienst an den SchülerInnen an der österreichischen Schule verstanden wird, zu stärken. Religion ist in vielfältiger Weise in der Öffentlichkeit präsent und gehört zum Menschsein. SchülerInnen und LehrerInnen bringen unterschiedlichste Erfahrungen mit Religion in die Schule mit. Insofern ist Schule in ihrem Bildungsauftrag
gefordert, die Auseinandersetzung mit Religion bewusst in den Blick zu nehmen und zu gestalten. Schulischer Religionsunterricht befähigt Kinder und Jugendliche, sich in der Vielzahl von Werten und religiösen Strömungen zu orientieren und begleitet sie beim Prozess der Entscheidung zur eigenen Gestaltung der Lebens‐ und Glaubensgeschichte. Dabei stellt die Person der/s Religionslehrers/in mit ihrer konkreten religiösen Verwurzelung ein Angebot in der Schule dar, an dem sich Kinder und Jugendliche orientieren, vielfach auch „abarbeiten“ und konstruktiv auseinandersetzen können.
SchülerInnen benötigen mehr als neutrale Informationen und „Auskunftspersonen“. Sie sind auf Menschen angewiesen, die aus der Position einer bestimmten Tradition heraus agieren, damit eine konkrete Auseinandersetzung mit Positionen und Überzeugungen erfolgen kann. Eine Stärke des konfessionellen Religionsunterrichtes ist es, dass – im Gegensatz zu anderen Unterrichtsfächern – diese Position offengelegt wird und dadurch
transparent ist.
7) Das in manchen Diskussionen kolportierte Bild von einem Religionsunterricht, der manipulativ indoktriniert oder auf „Nachwuchssicherung“ hin ausgelegt ist, entspricht weder der gelebten Realität noch den einschlägigen staatlichen und kirchlichen Dokumenten zum Religionsunterricht. Vielmehr befähigt Religionsunterricht – auf der Grundlage zentraler Deutungsmuster einer konkreten und erfahrbaren Religion – Schülerinnen und Schüler, eine dialogische Grundhaltung einzunehmen, auf Grund derer sie in der Lage sind, „in der (religions‐)pluralen Gesellschaft mit Angehörigen anderer Kulturen,
Konfessionen und Religionen respektvoll zu kommunizieren“.
Damit sind die Ausrichtung und das inhaltliche Konzept des konfessionellen
Religionsunterrichtes deutlich am Tisch. Wenn wir von Ethikunterricht sprechen, wissen wir gegenwärtig noch nicht, ob es sich um ein lebenskundlich‐hermeneutisches, um ein ethischreflexives, oder ein moralisch‐handlungsorientiertes Konzept handelt.
8) Wird Religion aus Gründen der „Neutralität“ oder der Annahme, dass Religion als Privatsache anzusehen sei, in der Schule ausgespart oder marginalisiert, kommt ein wesentlicher Aspekt gesellschaftlichen und kulturellen Lebens, der für viele Menschen Beheimatung und Sinnfindung bedeutet, nicht mehr in den Blick. Aber auch Prozesse der Ausgrenzung, Diffamierung und Vorurteilshaftigkeit, wie wir sie gegenwärtig in Bezug auf verschiedene religiöse Phänomene erleben, verlören ihren adäquaten Reflexionsraum. Wenn die kritisch‐konstruktive Auseinandersetzung mit und über Religion nicht mehr im
öffentlichen Raum stattfindet, wird das im „versteckten Kämmerchen“, ohne die
Einordnung in einen öffentlichen Diskurs, geschehen. Religion braucht Bildung, um sich selbst immer wieder anfragen zu lassen und der Gefahr zu entgehen, in Fundamentalismen zu erstarren. Und umgekehrt: Bildung braucht Religion, damit junge Menschen in reflektierter Verantwortung Entscheidungen für ihr Leben treffen können, im Hinblick auf alle wesentlichen Lebensbereiche.
Auch ein Ethikunterricht ist der (noch) zu klärenden Frage nach seinem weltanschaulichen Ort und der Frage, wie er Religion und Religiosität als wichtige menschliche und gesellschaftliche Realität menschenfreundlich anzugehen vermag, unterworfen. Durch eine unfruchtbare Konkurrenz lassen sich das notwendige Miteinander von Ethik‐ und Religionsunterricht nicht
lösen, sondern nur in einer ständig neu einzuholenden Ausdifferenzierung des für diese Gesellschaft zu leistenden Bildungsauftrages.
Graz, 24.10.2012